Agenda 2030 braucht kohärente Politik
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Weltweit soll ab 2030 niemand mehr Hunger leiden. So lautet das zweite Ziel der Agenda 2030 der UNO. Zahlreiche politische Massnahmen können dazu beitragen. Doch fast jede zieht ein Bündel an positiven oder negativen «Nebenwirkungen» nach sich. Das Beispiel Ernährungssicherheit zeigt, wie komplex die Umsetzung der Agenda 2030 sein kann.
Vom Acker auf den Teller – und darüber hinaus
Ernährungssysteme beinhalten alle Elemente und Aktivitäten, die es braucht, um landwirtschaftliche Produkte herzustellen, zu verarbeiten, zu handeln und zu verbrauchen – bis hin zur Entsorgung von Verpackungsmaterial und organischen Abfällen. Ernährungssysteme sind komplex und beeinflussen einander gegenseitig. Sie sind ausserdem nicht nur in nationale, sondern auch in internationale handelspolitische Strategien und Regelwerke eingebettet.
Auswirkungen auf andere Länder und künftige Generationen berücksichtigen
Ernährungssysteme so zu gestalten, dass sie auch nachhaltig sind, ist anspruchsvoll: Denn dafür müssen sie die Ernährung von uns allen sichern, ohne die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Grundlagen der heutigen und künftigen Generationen zu beeinträchtigen – und das nicht nur vor Ort, sondern auch in andern Ländern dieser Welt. Dies kann durchaus zu Interessenskonflikten führen. Will man sie vermeiden, müssen sie zuerst aufgedeckt und die geplanten Massnahmen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Nur so ist es möglich, eine kohärente Politik zu formulieren, mit der sich Hunger wirksam bekämpfen lässt.
Simulationstool zeigt Herausforderungen auf
Was heisst das konkret? Wissenschaftler_innen des CDE haben ein Tool entwickelt, mit dem einige Zielkonflikte bei der Umsetzung des zweiten Ziels der Agenda 2030 sichtbar werden. Die Simulation geht von folgender Annahme aus: Bolivien verabschiedet Massnahmen, um eine nachhaltige Ernährungssicherheit zu fördern – und die Schweiz unterstützt Bolivien dabei mit gezielten Handelsmassnahmen. Das Simulations-Tool prüft die (fiktiv) gewählten Massnahmen darauf hin, ob sie mit den verschiedenen Unterzielen des Zieles «Kein Hunger» oder mit weiteren Zielen der Agenda 2030 vereinbar sind. Solche Simulationen können helfen, bei der Umsetzung der Agenda 2030 Interessenskonflikte aufzuzeigen und möglichst optimale Lösungen für eine kohärente Politik zu finden.
Bolivien
Die Simulation geht von folgendem Szenario aus: Die Regierung Boliviens beschliesst, Ziel 2 der Agenda 2030 umzusetzen. Um die acht Unterziele anzupacken, diskutiert sie verschiedene strategische Möglichkeiten. Jede davon wirkt sich anders auf die unterschiedlichen Produzent_innen, die natürlichen Ressourcen und die sozialen Bedingungen im Land aus. So lässt sich jede Strategie hinsichtlich der zu erwartenden Fortschritte in Bezug auf jedes der acht Unterziele bewerten. Dabei zeigt sich, dass jeweils andere Interessenskonflikte in den Blick rücken, je nachdem, wie die gewählte Massnahme ausgestaltet ist. Ferner wird deutlich, dass optimale Lösungen oft aus einem Paket an zusammenhängenden Massnahmen bestehen, welche die ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit bestehender Ernährungssysteme gleichermassen unterstützen.
Schweiz
Angenommen, die Schweizer Regierung entscheidet, Bolivien bei der Umsetzung von Ziel 2 der Agenda 2030 zu unterstützen. Dafür prüft sie handelspolitische Massnahmen und versucht, deren Auswirkungen auf Ernährungssysteme in Entwicklungsländern zu beurteilen. Dazu gehören Massnahmen, die Produzent_innen aus Entwicklungsländern den Zugang zum Schweizer Markt erleichtern. Je nach ihrer Ausgestaltung unterstützen sie nachhaltige Ernährungssysteme in Bolivien und anderen Entwicklungsländern weniger oder mehr. Zusätzlich gilt es zu berücksichtigen, wie sich die Massnahmen der Schweiz auf die Ernährungssysteme im Inland auswirken würden.
Vollbildmodus
Datenvisualisierung von Christoph Bader. Die Datenvisualisierung basiert auf der Open Source Software von Hakim El Hattab reveal.js
Ziel 2: Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern
- 2.1 – Bis 2030 den Hunger beenden und sicherstellen, dass alle Menschen, insbesondere die Armen und Menschen in prekären Situationen, einschliesslich Kleinkindern, ganzjährig Zugang zu sicheren, nährstoffreichen und ausreichenden Nahrungsmitteln haben
- 2.2 – Bis 2030 alle Formen der Mangelernährung beenden, einschliesslich durch Erreichung der international vereinbarten Zielvorgaben in Bezug auf Wachstumshemmung und Auszehrung bei Kindern unter 5 Jahren bis 2025, und den Ernährungsbedürfnissen von heranwachsenden Mädchen, schwangeren und stillenden Frauen und älteren Menschen Rechnung tragen
- 2.3 – Bis 2030 die landwirtschaftliche Produktivität und die Einkommen von kleinen Nahrungsmittelproduzenten, insbesondere von Frauen, Angehörigen indigener Völker, landwirtschaftlichen Familienbetrieben, Weidetierhaltern und Fischern, verdoppeln, unter anderem durch den sicheren und gleichberechtigten Zugang zu Grund und Boden, anderen Produktionsressourcen und Betriebsmitteln, Wissen, Finanzdienstleistungen, Märkten sowie Möglichkeiten für Wertschöpfung und ausserlandwirtschaftliche Beschäftigung
- 2.4 – Bis 2030 die Nachhaltigkeit der Systeme der Nahrungsmittelproduktion sicherstellen und resiliente landwirtschaftliche Methoden anwenden, die die Produktivität und den Ertrag steigern, zur Erhaltung der Ökosysteme beitragen, die Anpassungsfähigkeit an Klimaänderungen, extreme Wetterereignisse, Dürren, Überschwemmungen und andere Katastrophen erhöhen und die Flächen- und Bodenqualität schrittweise verbessern
- 2.5 – Bis 2020 die genetische Vielfalt von Saatgut, Kulturpflanzen sowie Nutz- und Haustieren und ihren wildlebenden Artverwandten bewahren, unter anderem durch gut verwaltete und diversifizierte Saatgut- und Pflanzenbanken auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene, und den Zugang zu den Vorteilen aus der Nutzung der genetischen Ressourcen und des damit verbundenen traditionellen Wissens sowie die ausgewogene und gerechte Aufteilung dieser Vorteile fördern, wie auf internationaler Ebene vereinbart
- 2.a: Die Investitionen in die ländliche Infrastruktur, die Agrarforschung und landwirtschaftliche Beratungsdienste, die Technologieentwicklung sowie Genbanken für Pflanzen und Nutztiere erhöhen, unter anderem durch verstärkte internationale Zusammenarbeit, um die landwirtschaftliche Produktionskapazität in den Entwicklungsländern und insbesondere den am wenigsten entwickelten Ländern zu verbessern
- 2.b: Handelsbeschränkungen und -verzerrungen auf den globalen Agrarmärkten korrigieren und verhindern, unter anderem durch die parallele Abschaffung aller Formen von Agrarexportsubventionen und aller Exportmassnahmen mit gleicher Wirkung im Einklang mit dem Mandat der Doha-Entwicklungsrunde
- 2.c: Massnahmen zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens der Märkte für Nahrungsmittelrohstoffe und ihre Derivate ergreifen und den raschen Zugang zu Marktinformationen, unter anderem über Nahrungsmittelreserven, erleichtern, um zur Begrenzung der extremen Schwankungen der Nahrungsmittelpreise beizutragen
Dieser Beitrag beruht auf empirischen Erkenntnissen aus dem r4d-Projekt «Towards Food Sustainability: Reshaping the Coexistence of Different Food Systems in South America and Africa». Projektpartner in der Schweiz sind die Universität Bern mit dem Centre for Development and Environment, dem Institut für Sozialanthropologie und dem World Trade Institute sowie die Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights; in Bolivien Agroecología Universidad Cochabamba (AGRUCO); und in Kenia das Centre for Training and Integrated Research in Arid and Semiarid Lands Development (CETRAD).